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EPTA
Europea Piano Teachers Association
Sektion Österreich




Dokumentation
1998-2001




Beitrag zur Jahrestagung Graz November 1998

Klaus Runze

ZWEI HÄNDE - ZWÖLF TASTEN

Dreißig Jahre zukunftsorientierter Anfängerpädagogik im Klavierspiel

Mit ausdrücklichem Dank möchte ich meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass ich hier die Gelegenheit wahrnehmen kann, eine kleine Retrospektive meiner Bemühungen auf dem Gebiet der Klavierpädagogik vorzunehmen.
Ich muss schon gestehen, dass es mich ganz schön umgetrieben hat, nun - beinahe im Jahr ’99, gerade mal dreizehn Monate vor dem Jahr 2000 - von zukunftsorientierter Anfängerpädagogik im Klavierspiel zu sprechen - wenn ich bedenke, wie sich mir damals, in den sechziger Jahren, Zukunft aufgedrängt hatte.

Wenn ich in meinen Ausführungen und Demonstrationen etwas ausladend werde, so möchte ich schon im Voraus um Verständnis für mein „scherz-gewürztes“ Vorgehen dabei bitten. Ich werde nicht umhin können, einige Beispiele für das „globale Verflechtungssystem“, in dem wir unweigerlich stehen, zum besten zu geben. Mit dieser Erwähnung erlaube ich mir, mich in die unausweichliche Vernetzung, die uns unablässig abverlangt wird, einzuschalten.

Hierzu gehört - es kommt mir ja schon fast aufdringlich vor, angesichts der geologischen Verwerfung der Alpenkette -, dass ich ein Berliner bin. Und, um mit den Wellen der Spree und der Mur zu reden, ein waschechter obendrein.

Damit ich nicht in den Verdacht gerate, dass ich nur das Blaue vom Himmel herunterhole und mir dafür ausgerechnet den schönen steirischen Himmel ausgesucht habe, möchte ich sogleich mit einer Reportage beginnen, in der sich das Dräuende eines bewölkten Himmels mit der Klarheit eines ungetrübten Äthers vermischt.

Was macht ein Klavierlehrer - so die unselige Kennzeichnung unseres Berufsstandes - wenn er mit seinen beruflichen Verpflichtungen in das globale Verflechtungssystem gerät? Für den 26.Juni 1963 hatte ich ein „Munteres Musizieren zum Frühjahr“ mit meinen Schülern angesetzt. So lautete der Titel der ersten einer Reihe von Schülerabenden, die ich, z.T. mit den KollegInnen anderer Instrumente, im Laufe der sechziger Jahre als „Spielwiese für Tiger & Co“ - Sie wissen, worauf ich mich beziehe - geplant hatte. Dies war der Tag, an dem Präsident Kennedy West-Berlin seinen Besuch abstattete und das geflügelte Wort seiner changierenden Identität als „Ein Berliner“ in alle Welt rief Da mir nicht die Gabe zuteil ward, den amerikanischen Akzent wiederzugeben, den möglicherweise jeder dabei im Ohr hat, mach' ich's lieber in echt: „Ick bin'n Balina“. Was sollte ich - als Mauer-Verinselter - tun? Also begab ich mich im schwarzen Anzug - so war das damals - schon vormittags, konzertgerüstet, zum Kurfürstendamm; es ist ja immerhin schon 35 Jahre her, also mehr als die klassische Dreiteilung im Dezimalsystem - 33 1/3 Jahre ergäbe eine von drei Generationen des homo sapiens musicalensis in einem Jahrhundert! Und siehe da, da fuhr er nun - zu dritt im A B C - Trio : Adenauer, Brandt, Cennedy (er möge mir die orthografische Manipulation verziehen haben) - an mir vorbei, der ich einen erhöhten Punkt zum Begaffen ergattert hatte, bevor ich zur Vorbereitung meiner Veranstaltung eilen musste.

Auf die Fragen der Anfängerpädagogik im Klavierspiel zurückzukommen - wie stand es damit? Im Jahre 1961, als Adept der Dalcroze-Rhythmik im Aufbaustudium an der Musikhochschule in Berlin, erhielt ich nach dem Weggang einer Kollegin die Aufgabe bzw. Chance, den Klavierunterricht, gekoppelt mit Rhythmik-Kursen für jüngere Schüler - den Terminus Früherziehung gab es noch nicht so wie heute -, zu übernehmen und auch neu aufzubauen.

In der Rückschau nötigt mich die Sucht nach Vernetzung, der ich ja, wie Sie bemerkt haben, erlegen bin, Sie, sehr verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, sogleich mit einer geballten Ladung musikhistorischer und Piano-verdächtiger Erinnerungsbrocken zu befeuern. Die Unterrichtsstätte, in der ich von heute auf morgen - im Rahmen der Musikschule des Bezirks Berlin-Charlottenburg - drei volle Nachmittage ab Januar 1961 zu unterrichten hatte, war das bemerkenswerte älterere Gebäude einer Grundschule, an der u. a. der Unterricht von Fritz Jöde ab 1923 stattgefunden hatte. Für die Geschichte der Musikerziehung ist dies insofern von Bedeutung, als damals hier in Charlottenburg die erste Institution dieses Typs von Musikschulen nach dem ersten Weltkrieg unter Jödes Leitung ins Leben gerufen worden war. Dies Gebäude liegt in einer kleinen Seitenstraße in Sichtweite zum östlichen Flügel des Charlottenburger Schlosses. In dessen für Konzertveranstaltungen wie geschaffener „Goldener Galerie“, in der auch Philipp Emanuel Bach gewirkt haben mag, war dessen Geist so gegenwärtig, dass er allabendlich, wenn ich zur Bushaltestelle ging, auf mich überschwappte. An einem der großen Wohnhäuser der Straßenecke - sozusagen mit beiden Gebäuden verbunden - ist eine Gedenktafel angebracht, die darüber Auskunft gibt, dass in diesem Hause Elisabeth Caland wohnhaft gewesen sei und von 1909 bis 1913 ihre klavierpädagogischen Schriften verfasst habe.

Nach eigenen Unterrichtserfahrungen mit Kindern, in sporadischer Form, und mit einer gehörigen Portion Widerspruchsgeist ausgestattet, stellte ich mir die Frage nach einer Form von Unterricht, in der die in der Luft liegenden Veränderungen unserer musikgeschichtlichen Position und der mit ihr verbundenen gesellschaftlich-politischen Zusammenhänge ihre Ausprägung finden könnten.

Zwar hatte ich über die Brücke, die musikpädagogisch gesehen in den fünfziger Jahren zu den Wurzeln neuer Ansätze der Musikerziehung der zwanziger Jahre bestand - z. B. zur Reformpädagogik, zu Varró, Dalcroze, Orff - eine Vorstellung davon, dass es für den Klavierunterricht noch einiges durchzusetzen gäbe; zwar war ich schon mit dem bekannt, was nun als „moderne Literatur“ für den Unterricht zur Verfügung stand - neben Bartók etwa Casella, Kabalewski, Henk Badings. Jedoch wurde mir, sobald ich in größerem Umfang für viele Schüler die Verantwortung für einen Unterricht zu ertragen hatte, der den Forderungen, die die Zukunft stellen würde, angemessen ist, klar, dass ich selbst nach neuen Formen der Vermittlung und Unterrichtsgestaltung Ausschau halten müsste.

Aus meiner Situation an der Musikschule in Berlin-Charlottenburg hat sich in kürzester Zeit eine Konstellation von Aspekten herausgestellt, deren Zusammenwirken - wie ich wohl sagen darf - ein neues Konzept von Unterricht notwendig machte.

Mehr mit musikalischem Instinkt und menschlichem Common Sense als mit der Fähigkeit zu rationalem Erwägen oder mit abgesicherten Erkenntnissen ausgestattet, hat sich so für mich ein Mosaik von Forderungen ergeben, die ich mir für eine Musikpädagogik am Klavier, die es anzustreben und durchzusetzen gälte, gestellt habe. Was ich hier sage, bezieht sich auf die Zeit ab 1961, als ich die Grundlagen für meine Publikation ZWEI HÄNDE - ZWÖLF TASTEN gelegt habe. Das Konzept - mit sehr vielen Schülern unterschiedlichsten Alters entwickelt und mit Kollegen sowie mit nicht wenigen Eltern meiner Schüler kooperativ diskutiert - war ca. 1965 ausgereift. Nun komme ich wieder zu einem Faktum, das ganz konkret Anlass für die Form der Ankündigung dieses meines Referats gewesen ist: Im Dezember 1968 habe ich das Manuskript dem Schott-Verlag angeboten. Das Ergebnis, seit 1971 in wechselnden Wellen greifbar, ist bekannt.

Ich möchte nun versuchen, das Mosaik von Forderungen, die ich mir gestellt hatte, mit einigen Stichworten kurz zu umreißen, ohne dass ich an dieser Stelle näher auf jeden einzelnen der Punkte eingehen kann.

1. Die primäre Bedeutung des Hörens beinhaltet auch die übergeordneten Kategorien des Horchens, des Hinhörens, der Bereitschaft zur Aufmerksamkeit, welche nicht einfach als selbstverständlich vorausgesetzt werden können.

2. Ein Klavierunterricht, der vom Hören ausgeht, muss ohne Noten beginnen, damit gewährleistet ist, dass die Schrift nur ein Hilfsmittel bleibt, dass sie nicht als das Eigentliche der Musik verstanden wird.

3. Unmittelbarkeit im Umgang mit Tönen und Klängen ist Bedingung für das Gewinnen von Klangerfahrung und die Entwicklung der Klangvorstellung. Dem Emotionalen im musikalischen Erleben sollte ein breiter Raum gegeben werden.

4. Die indirekte Tonerzeugung am Klavier steht der Ausbildung eines intensiven Kontaktes zum Instrument - anders als dies z.B. bei den Melodie-Instrumenten der Fall ist - mitunter im Wege. Dem sollte in erhöhtem Maße gegengesteuert werden.

5. Das Alter des Beginnens kann entsprechend gewandelten Arbeitsformen und -bedingungen vorverlegt werden; während es seinerzeit üblich war, von ca. acht Jahren als Beginn für das gezielte Klavierspiel auszugehen, kann dies schon für das Alter von fünf oder sechs Jahren angestrebt werden.

6. Partnerschaftlichkeit im Klavierspiel ist in jeder nur denkbaren Form in den Ablauf der Unterweisung einzubeziehen, sei es, dass der Lehrer sich als Partner des Schülers versteht, sei es, dass unterschiedliche Formen der Gruppenbildung aufgebaut bzw. einbezogen werden.

7. Die Anregung der Fantasie ist entsprechend der Neigung des jüngeren Kindes, Assoziationsketten zu bilden, für die Vermittlung von musikalischen Lerninhalten in verstärktem Maße hinzuzuziehen. Hierbei spielen Bewegungsfreude und Bewegungsfantasie eine entscheidende Rolle.

8. Größtmögliche Offenheit auch unerwarteten Klängen gegenüber zielt u. a. auf das Verständnis der musikalischen Vielfalt, die sich im 20. Jh. vor uns ausbreitet.

9. Die Einbeziehung der Eltern des Schülers - sei es im pädagogischen Gespräch, sei es im Miteinander musikalischen Tuns - wird als stützendes Regulativ eingesetzt, wodurch vermieden werden kann, Zeit und Energie zu vertun.

10. Die Praxis der Aufgabenstellung wird mit dem Kind gemeinsam entwickelt, das Kind übt sich in sinngemäßer Selbsteinschätzung.

11. Gedächtnis- und Motivationshilfen werden über das Visuelle, schriftlich Fixierte in den Unterricht eingebaut. Die Freude des Kindes an malerischer, zeichnerischer oder auch sprachlicher Umsetzung von musikalischen Inhalten wird gezielt ausgenutzt.

12. Sogenannter kreativer, selbstschöpferischer Umgang mit musikalischen Phänomenen wird durch persönliche Ansprache des Kindes im Hinblick auf dessen Eigenerfahrung möglich gemacht. Das improvisatorische Moment musikalischen Gestaltens wird dabei in sinnvollem Maße geweckt und hervorgelockt.

Mit diesem kurz hingeworfenen Katalog von Orientierungen möchte ich das Mosaik von Forderungen zu einem schillernden Kaleidoskop pädagogischer Motivationen vor Ihrem inneren Auge erstehen lassen, wenn Sie in meinen beiden Büchern und dem dazu gehörigen Lehrerheft möglicherweise kopfschüttelnd herumblättern.

Was diese Publikation betrifft, so scheint es wichtig - anknüpfend an die zuvor berichtete Entstehungsgeschichte - sachlich noch folgendes hinzufügen:

Nach den zuvor geschilderten Prämissen vorgehend, stand ich vor der schwierigen Frage, wie man einen solchen inneren Bogen in eine äußere Form bringen kann, die sich weitergeben lässt. Ich kam dabei zu dem Ergebnis, dass - wenn schon das Wort „Klavierschule“ dafür kaum vermeidbar ist - das Lernen ohne Noten vom Lernen mit Noten innerhalb einer Publikation getrennt angegangen werden muss.
Über das Mittel der Assoziation und der Analogie ergab sich eine so große Fülle von Anregungen für die Fantasie meiner Schüler, dass ich im Laufe der Jahre schon damals einen reichen Fundus an Kinderzeichnungen, die durch gezielte Arbeit direkt aus dem Klavierunterricht hervorgegangen sind, gesammelt hatte. So konnte ich ein „Spielbuch ohne Noten“ mit Hilfe dieser visuellen Brücke zusammenstellen. In Zusammenarbeit mit dem Verlag entstand dann das Konzept der farblichen und sprachlichen Gestaltung, wobei die Tastenbilder, die ich selbst angefertigt habe, auch einen gleichsam „handgemachten“ Charakter erhalten sollten.

Der pädagogisch entscheidende Punkt, den ich in diesem Zusammenhang betonen möchte, besteht darin, dass es sich nur um wenn auch systematisch zusammengestellte so doch flexibel zu handhabende Bausteine der Musik und des Klavierspiels handelt. Sie sind als Anregungen gedacht und entsprechend offen angelegt, um weiterentwickelt zu werden. In Zusammenhang mit der 2. Auflage konnte ich dann mit der Herausgabe des Lehrerheftes ein kleines Panorama der Arbeit am Detail ausbreiten.

Bei der Frage des Notenlernens im II. Band „Spiel mit Noten“ bin ich dann dem Prinzip der Zusammenarbeit mit dem einzelnen Schüler, der alles Arbeitsmaterial in eigener Verantwortlichkeit ergänzen und erweitern sollte, gefolgt.

Bevor ich hierauf noch gesondert eingehe, möchte ich zwei Hinweise geben, die in besonderer Weise mit Österreich zu tun haben:

Wenn Sie im Band 1 die Kinderzeichnungen auf den Seiten 29 und 33 sehen (siehe Abb.1 und 2) - es geht dabei um die musikalisch zentrale Frage des An- und Absteigens einer melodischen Linie, nahegebracht anhand des Themas vom „Berglied“ - so haben Sie hier die Berge der Steiermark vor sich. Für meine Schülerin Judith, damals gerade sechs Jahre alt, war Köflach die zweite Heimat, in der sie alle Ferien der Familie verbrachte. Natürlich hatte sie eine genauere Vorstellung, was es im Gebirge so alles gibt, als üblicherweise ein Kind aus Berlin - das Gipfelkreuz hat sie mir damals extra erläutert.

Abb.1

Die Fünftonlage für die 5 Finger der Linken

Die Linke spielt das Berglied auch in der Fis-Lage
Es beginnt der 5.Finger auf dem Ton Fis

Spielanleitung:
Zu 1 und 2: Das Kind versucht, gleichzeitig zu spielen und zu zeigen:
die Linke spielt, die Rechte zeichnet in die Luft. Entsprechend umgekehrt.


Abb.2

Das Berglied in den beiden „schiefen“ Lagen

Diese beiden Fünftonlagen, die H-Lage und die B-Lage,
haben einen „schiefen“ Rahmen:
eine Schwarze und eine Weiße. Der Rahmengriff
der Pauke ist hier anders als bei den anderen Lagen.

H-Lage


B-Lage

Spielanleitung:
Zu 3: Die erfahrungsgemäß am schwierigsten zu spielenden Fünftonlagen sollen zuhnächst nur langsam gespielt oder aber zu einem späteren Zeitpunkt durchgenommen werden.


Anlässlich des Symposions „Elementare Musikerziehung“, das in der Hochschule in Wien im Dezember 1993 stattfand, konnte ich die Vielfalt der musikpädagogischen Aspekte, wie sie z. T. in meiner Publikation ZWEI HÄNDE - ZWÖLF TASTEN ihren Niederschlag gefunden haben, ausführlich darstellen. Der umfangreiche und stark bebilderte Bericht „Erfahrung und Verwirklichung. Die Bedeutung von Improvisation für einen komplexen Unterricht am Instrument“ ist 1997 in dem Buch „Elementare musikalische Bildung“/ Herausgeber Franz Niermann/ bei UE in Wien erschienen.

Um die Vorgehensweise beim „Notenlernen“ zu verdeutlichen, wie ich dies im Band II „Spiel mit Noten“ angelegt habe, möchte ich hier noch einige grundsätzliche Dinge vorausschicken:

1. Das Lernen darf nicht nur über das Lesen vermittelt werden, es muss mit dem Schreiben, mit der Handführung, mit dem bewegungsmäßigen Erfassen der Vorgänge und Zusammenhänge einhergehen.

2. Das Verständnis der Schrift als eines Hilfsmittels muss von allem Anfang an gewährleistet bleiben. Es darf nicht der Irrtum entstehen, dass „Noten Musik sind“ - wie dies erfahrungsgemäß leider vielfach der Fall ist.

3. Für die Entsprechung des Zeitlich-Auditiven zum Räumlich-Visuellen ist die Einbeziehung grafischer Formen, wie sie in barocken Verzierungen ebenso wie in sogenannter „Grafischer Notation“ heutiger Zeit anzutreffen sind, von besonderer Wichtigkeit.

4. Die Erfahrung des Visuellen als eines „Merk-Zeichens“ für das Auditive sollte über Arbeitsformen des Erprobens, der Aktion, des prozesshaften Mitvollziehens erreicht werden.

5. Die Besonderheit des Klavierspiels legt es nahe, dass Bass- und Violinschlüssel gleichwertig und in gewissem Sinne gleichzeitig eingeführt werden. Die ungünstige Position des Spielens um das „mittlere C“ herum sollte tunlichst vermieden werden, ohne dass auf die Orientierung, die diese optimale Lage 'von Tönen für' das Spielen mit beiden Händen darstellt, verzichtet wird.

Nach langjährigen Erprobungen und Erfahrungen mit meinen Schülern bin ich für die Vermittlung der Notenschrift zu der Form gekommen, wie Sie sie hier in Band II „grau in grau“ vorfinden.

Um zu zeigen, wie die Arbeit mit dem Schüler dabei abwechslungsreiche Formen annehmen sollte, zeige ich nun einige Beispiel, punktuell ausgewählt, für das Verfahren in diesem Arbeitsbuch.

Zunächst ein Beispiel zur Vorgehensweise am Beginn dieses Buches (S.14): Für das beidhändige Spiel der Hände in der a-moll-Lage im Abstand von zwei Oktaven werden die Faktoren Linienführung, melodische Phrase, Atemzäsur in den Vordergrund gestellt. Das Kind wird aufgefordert, melodische Linien durch Einzeichnen in den Notentext nachzuvollziehen, bei gleichzeitiger Schulung des Lesens beider Systeme. Für das Eintragen eigener melodischer Fortführungen wird das Vorstellungsvermögen angeregt und die Selbständigkeit beider Hände für das Spielen in beiden Schlüsseln - Violin- und Bassschlüssel - vorbereitet.

Abb.3


Paralleles Spielen beider Hände
In beiden Händen werden gleiche Töne gespielt.
Beim Sekundenabstand folgt auf eine Note im Zwischenraum eine Note auf der nächsten Linie und umgekehrt.
Trage hier für beide Hände die Linien, die den Gang der Töne angeben, und die Noten ein.

Führe die Melodie selbst weiter


Für den Beginn des Spielens im Abstand von zwei Oktaven sprechen viele Gründe musikalischer, motorischer und lesetechnischer Art. Die Zuhilfenahme der beiden C-Töne, die um das mittlere C herum gelagert sind - das „kleine C“ und das „zweigestrichene C“, in der Handlage des dritten Fingers beider Hände auf diesem Ton als melodischem Zentralton - bietet einen optimalen Ausgangspunkt für das strukturelle Einüben elementarer Voraussetzungen für das Klavierspiel: Symmetrie der Finger der menschlichen Hand, Intervallbildung, Griffsicherheit. Hierzu ein Beispiel zur Orientierung, bevor das Spielen losgeht, von einem Kind bunt ausgemalt (S.5).

Abb.4

Wir suchen die Lage für die 5 Finger beider Hände
Beide Hände spielen im Abstand von zwei Oktaven.
Jede Hand hat ihren 3.Finger auf ihrem C -
die R.H. auf dem oberen C
und die L.H. auf dem unteren C.
2. und 4. Finger greifen um das C herum eine Terz.
1. und 2. Finger greifen um das C herum eine Quinte.
Zum Schluss greifen wir mit allen Fingern eine ganze Fünftonlage.
Wenn wir die W.T. dieser Fünftonlage gleichzeitig niederdrücken, gibt es eine richtige
Tontraube - gerade so, wie die Noten hier: sie sehen wie eine Weintraube aus.


Die Experimentierfreudigkeit im Erfinden von Zeichen und im Finden von Entsprechungen der visuell-haptischen zu den auditiv-klanglichen Gegebenheiten im grafischen Bild sollte bei der Vermittlung von objektivierbaren Lerninhalten soweit wie möglich an den Anfang gestellt werden. Händeverteilung, Handwechsel, Schlüsselfixierung (G- und F- Schlüssel ) sowie eine vom Musikalischen her effektive Spielfreude kommen in dem hier wiedergegebenen „Glockenpendeln“ von der Hand einer Schülerin zum Ausdruck.

Abb.5


Zu den in den Abbildungen 3 und 4 wiedergegebenen Beispielen aus dem Buch werden eigene Notationen von Kindern angefertigt. Sie werden im pädagogischen Vorgehen mit praktischer Schulung des Gehörs und mit der Aufforderung zum Voraushören verbunden. Die Orientierung des Tones C - sowohl die „Klammerfunktion“ des „Mittleren C“ als auch die Markierung der beiden „C-Zwischenräume“ im Notenbild der beiden Systeme für beide Schlüssel und die farbige Ausmalung aller C-Noten (z. B. rot) dient der Festigung und Automatisierung der Vorgänge des Lesens (hier, auch Abb. 4: schwarz-weiß Wiedergabe von farbigen Vorlagen).

Abb.6


Im Aufbau dieses Lehrbuchs „Spiel mit Noten“ nimmt die gegenseitige Hilfestellung von spieltechnischer Einübung und musiktheoretischem Rüstzeug zum musikalischen Verständnis des Gespielten erheblich zu. Bei dem nun folgenden Beispiel (S.39 des Buches), bei dem die Intervallbildung modellhaft mit einem lockeren Spielverständnis verbunden wird, zeigt sich, wie ergiebig die Malfreude eines Kindes - hier durch farbige Eintragung der Intervallbildung für beide Hände in das Buch - in den Dienst musikalischer Erfahrung gestellt werden kann.

Abb.7

Intervalle in Doppelgriffen
Noch mehr Versetzungszeichen

Die Intervalle auf den "Stammtönen" der W.T.


Die Tonabstände von den Schlüsseltönen aus,
in erweiterter Handspanne.
Das Versetzungszeichen b wird auch für die Ernedrigung anderer Töne gebraucht:
Aus A wird As, aus E wird Es, aus D wird Des,
so wie B aus H entstanden ist.

1. Die Veränderung der Intervalle für die R.H.
---Die L.H. spielt, oder sie gibt Zwischenschläge dazu (Schlagnoten x| x| )


Ich hoffe, dass ich einen kleinen Eindruck vermitteln konnte, dass dieses drucktechnische Fossil aus den Sechziger-, Siebziger-Jahren nicht nur damals zukunftsorientiert gewesen ist - die Flut der Publikationen der Achtziger-, Neunziger-Jahre macht es ja vielleicht deutlich -, sondern dass diese Mutmaßung möglicherweise auch heute noch gilt. Durch visuelle und coloristische Überflutung des einfachen Klavierlehrer-Daseins ist dies ja z. Zt. der Gefahr ausgesetzt, gleich mehreren Seuchen auf einmal zu erliegen. Da hilft nur eines weiter, aus der Schlinge herauszukommen: Eigenverantwortung, Hinwendung zum Schüler, Offenheit im Verfahren, Entschiedenheit bei der Wahl und Durchführung von Inhalten. Vielleicht kann ich dazu einen kleinen Beitrag geleistet haben.

Bitte gestatten Sie mir, Sie darum zu bitten, zum Abschluss meiner Argumentation mit einem kleinen Alibi behilflich zu sein. Seinerzeit - ich platzte ja als Nonkonformist in die Phase der Studentenrevolte und der „antiautoritären Erziehung“ hinein - wurde ich z.T. mit unterschiedlichsten Strömungen, die Diskussionsstoff in der Öffentlichkeit bildeten, identifiziert. Das Beispiel des „Tigers“ - Band 1, Seite 20 - stand synonym für eine Einschätzung, die gelegentlich mit „da wird ja immer noch getigert“ charakterisiert wurde.

Abb.8

Der Tiger

Er schleicht daher,
er sucht nach Beute...
Zupacken will er,
Hunger hat er heute.

Nimm die Finger du
so wie Tigerkrallen.
Klimpre dann drauf zu -
es macht Spaß uns allen!

Spielanleitung:
Wir gehen mit beiden Händen - über Kreuz greifend - auf der Tastatur entlang: einmal schleichend, einmal kräftig zupackend.
Auch zu zweit: Wir kommen von beiden Enden der Tastatur schleichend aufeinander zu; da gibt´s ein tolles Handgemenge - mit Geschrei!


Dem gegenüber haben meine Schüler ja immer erfahren, dass Tonika und Dominante zwei wunderschöne Stilblüten der menschlichen Gesellschaft sind.
In meinem kleinen Arsenal von „Pädagogischer Musik“, wie so etwas mitunter abfällig genannt wird, gab es bei mir ein Lied von „Tante Toni und Onkel Domino“, das viele Schüler bei mir gelernt haben, auch als Hilfsmittel zur Transposition: Exakt zum Namen Toni sind es die Töne der Tonika, zum Namen Domino die Töne der Dominante. Es wäre schön, wenn wir es nun gemeinsam singen könnten.

Abb.9