"Üben & Musizieren" (Reinhold Schmidt)             "Musik und Bildung" (Fritz Emonts)


Auszug aus "Üben & Musizieren" 5.Jahrgang 5/Oktober 1988:


Instrumentalschulen auf dem Prüfstand


Das Klavierschulwerk von Klaus Runze

Reinhold Schmidt

"Ich hasse alles das, was einem Lehrbegierigen unnütze Mühe macht und die Lust benehmen kann." C. Ph. E. Bach, Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen (II, l, §4)

Wer heute eine Klavierschule schreiben will, sieht sich vor große Probleme gestellt. "Die Musikerziehung hat den heutigen Pluralismus in ihre Arbeit einzubeziehen und zu reflektieren, wenn sie nicht in Anachronismus und Provinzialismus stecken bleiben soll. Sie muss sich als Teil einer Gesamt-Erziehung verstehen, deren besonderes Kennzeichen Offenheit nach allen Seiten hin ist."(R) Eine Klavierschule heute muss alle musikalischen Aussageweisen der Vergangenheit und Gegenwart berücksichtigen. Sie muss den Schüler mit einem Rüstzeug ausstatten, das ihn befähigt, selber produktiv zu werden, aber auch Vorgegebenes zu reproduzieren. Herta Jurisch erwartet von einer Klavierschule unserer Zeit noch mehr, dass sie nämlich "dem Lehrer über das traditionelle Lernprogramm hinaus Hinweise zur Unterrichtsgestaltung gibt, besonders im Hinblick auf die ihm vielleicht ungewohnte Situation im Gruppenunterricht und beim Spiel ohne Noten". Klaus Runzes Klavierschulwerk deckt diese Forderungen vorbildlich ab. Was inzwischen komplett in drei Teilen vorliegt, ist ein geglückter "Versuch über die wahre Art", heute Klavierspielen zu lernen.

Schon 1971 ist der Band I von "Zwei Hände - Zwölf Tasten", ein Buch mit Bildern für kleine Klavierspieler, Spielbuch ohne Noten, bei Schott erschienen. Durch einen Beginn mit Noten können die psychologischen und physiologischen Abläufe beim Klavierspiel sehr beeinträchtigt werden, so dass die Entfaltung musikalischer Anlagen erschwert und verzögert wird. Hier die bisher vorliegenden Editionen von Runzes Schulwerk im Überblick:

1971 Band I
1973 Band II, Spiel mit Noten
1977 Englische Ausgabe beider Bände (bei Schott, London)
1982 2. revidierte Ausgabe des Band I
1984 Lehrerheft mit ergänzendem Text (Kommentar und Anleitung)
1985 2. revidierte Ausgabe von Band II
1986 Japanische Ausgabe (bei Schott, Japan)

Letzteres ist ein ganz erstaunlicher Schritt, wenn man bedenkt, wie starr und nach rückwärts gewendet die japanische Klavierpädagogik ausgerichtet war; wohl immer noch zählt die Schule von F. Beyer zu den meistbenutzten.

Schulen nach Runze haben von ihm gelernt; keine kann ihn ersetzen. Eine Reihe seiner Beispiele führt Klaus Wolters in den Orientierungsmodellen für die Unterstufe an.

Was ist der Inhalt von Band I? Am Anfang steht die Pentatonik der schwarzen Tasten. Noch bevor kleine Melodien gespielt werden, ist mit Clustern - später mit Glissandi - der gesamte Umfang der Klaviatur zu erobern. Das zweistimmige Spiel wird eingeführt, indem die andere Hand in Gegenbewegung tastenspiegelbildlich (wie bei Hirzel-Langenhan) zu greifen hat. Der Pentatonik schließen sich in wechselnder Folge an: Chromatik, Spiele mit der Rufterz, Aleatorik, Diatonik der weißen Tasten, die Arbeit - denn es ist in alle Tonarten zu transponieren - mit Pentachorden (Dreiklänge Inbegriffen) in Dur, Moll und verschiedenen Modi. Die andere Hand oder der andere Spieler begleitet jeweils mit Grund- und Quintton oder z.B. auch im Kanon. Alle Grundformen pianistischer Bewegungstechnik werden behandelt. Wo nötig, wird die feinmotorische Ausführung durch grobmotorische Vorübung präpariert. Verschiedene Anschlagsarten, verschiedene Artikulationen (auch beider Hände gleichzeitig) werden gefordert. Im Greifen werden alle Grundintervalle erfahren und begriffen, wobei der Bewegungsvorgang, im Liedtext erklärt, diejenigen Handmuskeln trainiert, die für die Schnelligkeit der Finger zuständig sind. Dies ist ein Beispiel für die Genialität mancher Aufgabenstellungen in Runzes Werk. Es gibt Übungen für 2 bis 5 bzw. 10 Finger, darunter auch komplizierte Stützfingerübungen. Metrum und Takt werden erfahren. Die Gesetze der Harmonie werden dem Anfänger im Phänomen der Resonanz eindringlich vorgestellt.

Dieser gesamte Stoff wird nahegebracht in einem "Lehrgang ohne Noten". Kinderzeichnungen illustrieren und erklären die Inhalte, Grafiken versuchen mit Hilfe von Tastenbildern, Ziffern und Pfeilen die Bewegung von Händen und Fingern darzustellen. Oft beschreiben Texte zum Mitsingen oder -sprechen die Vorgänge.

Man sieht, der Umfang des Stoffes ist sehr groß, und so stellt sich die Frage, für welche Altersstufe Runzes Werk angelegt und brauchbar sei. Wie aus der Aufmachung und der graphischen Gestaltung hervorgeht, wurde Band I für Vorschulkinder, also für 4-7jährige konzipiert. Aber ganz sicher sind die musikalischen Inhalte für jede Altersstufe verwendbar, wenn die Form der Darbietung entsprechend geändert wird. Mit großem Erfolg vollziehen auf diese Weise meine 10-11jährigen Schüler des musischen Gymnasiums und sogar Erwachsene den Einstieg ins Klavierspiel. Sie vor allem sind darauf angewiesen, dass ihre Motilität, d.h. die Beweglichkeit des ganzen Spielapparates herausgefordert und ausgebildet wird. Das geschieht aufs vortrefflichste, wenn, wie bei Runze, die gesamte Klaviatur als Spielfeld benutzt wird und nicht nur der schmale Abschnitt in der Mitte der weißen Tasten, der "Idiotenhügel für Anfänger". Bei einer solch räumlichen Beschränkung über Monate hin kann Motilität am Instrument nicht gefördert werden. Körperliche Motilität ist Voraussetzung für Präzisionsleistungen, so die moderne Bewegungsforschung. Der Beginn mit Noten kann gerade in dieser Hinsicht sehr hinderlich sein, während Runzes nach allen Seiten hin offener Weg, wenn er phantasievoll mit einem geneigten Lehrer beschritten wird, immer Gelegenheiten bietet, alle möglichen Bewegungsarten und Klangerscheinungen auszuprobieren. Dabei können auch Aktionen im Innenraum des Instruments einbezogen werden. Das alles wird im Lehrerheft ausführlich erklärt und erläutert.

Runzes Weg des Klavierspielens verlangt vom Lehrer zum einen die Bereitschaft, sich als Partner des Kindes zu verstehen, und zum anderen die Aufgeschlossenheit, die gegebenen Beispiele immer wieder aus eigener Phantasie zu variieren. Zwei weitere Gedanken aus dem Lehrerheft sollen hier hervorgehoben werden. Die Musik wird zu einem Teil des Kindes selbst, indem ihr Sprachcharakter, ihre Eignung als Kommunikationsmittel betont wird. "Im Wechselspiel der Beteiligten - im Fragen, Raten, Klatschen, Klopfen, Singen, Mitsprechen, Rufen, Antworten - sammelt das Kind Erfahrungen, durch die es Musik als Sprache erlebt" (R). Der andere Gedanke betrifft die Gefahr, dass verbale Spiel-Anweisungen sich verhängnisvoll auswirken können, wenn sie problematisieren, was sie erklären möchten. Auf diesen Vorgang bezieht sich W. T. Gallwey in seinem Buch "Tennis und Psyche". Im 2. Teil des Kapitels "Den Einklang herstellen" mag man nachlesen, wie Kinder laufen lernen und wie dem Verfasser in der Tanzstunde Schritte beigebracht wurden. Es gilt nur noch daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen und auf das Klavierspiel zu übertragen. Um dem Kind Unbefangenheit zu erhalten oder Befangenheit zu nehmen, gibt Runze ihm geeignete Assoziationen, z.B. aus der Tierwelt. Durch Erklärungen sind Unbefangenheit und vitaler Einsatz weniger zu erreichen als durch eine Unmittelbarkeit des Herangehens an das Instrument im Rollenspiel, in der Nachahmung.

Band II stellt eine hervorragende Einführung in das Spiel mit Noten dar. Er ist nicht unbedingt als Fortsetzung von Band I gemeint. Man kann ihn gleichzeitig neben Band I benutzen, wenn eine ausreichende Zeitspanne vorausgegangen ist, in welcher der Schüler sich mit der Klaviatur vertraut gemacht hat. Das wird je nach Alter und Arbeitsbedingungen (z.B. ob Einzel- oder Gruppenunterricht stattfindet) ganz verschieden sein. Denkbar ist auch eine Beschäftigung mit dem Band II unabhängig von Band I. Dann aber muss neben dieser Arbeit ein Spielen mit klavieristischen, musikalischen und improvisatorischen Programmen ohne Noten einher- bzw. vorausgehen. "Das Hauptanliegen dieses Unterrichtswerkes besteht darin, im Bewusstsein des Klavierspielenden die Grenze zwischen Improvisation und Komposition abzubauen. Die Grundlagen hierfür werden dadurch geschaffen, dass das komplexe Erfassen musikalischer Zusammenhänge im Vordergrund steht und das selbständige Umgehen mit den Elementen der Musik die Arbeit bestimmt" (R). Graphische Hilfsmittel sollen vielfältig und mit Phantasie eingesetzt werden. Der Anfang des Buches ist handschriftlich reproduziert, auf großen Notensystemen angelegt, so dass Kinder ohne weiteres eigene Eintragungen machen können, z. B.:

- das Nachziehen der melodischen Linie,
- das Kennzeichnen der Intervalle,
- das Eingrenzen der Phrasen durch Atembögen bzw. -zeichen,
- Markierung von Schwerpunkten, Hauptschlägen, Grundschlägen,
- den Verlauf einer 2. Stimme in Gegen- oder paralleler Bewegung.

Diese eigenen Eintragungen vertiefen den Lernprozess. Zusammenfassende Cluster-Notierungen fördern das Lesen in Zusammenhängen. Vieles, was im Band I angelegt ist, wird in Band II wieder aufgegriffen beim Umgang mit Noten. Auf der Fülle gesammelter Greif- und Hörerfahrungen aus Band I basiert die Bildung der musikalischen Vorstellung, dessen, was Martienssen Hörsphäre nennt. An ihrer Übertragung ins Visuelle, in die Sehsphäre, wird der Schüler selbst in besonderem Maße beteiligt bei der Arbeit mit Band II. Hier ist ein Prozess in Gang gesetzt. Bald ist der Schüler im Umgang mit dem Notenbild so geschult, dass weitere Literatur hinzugezogen werden kann. Runze hat eine umfangreiche Liste zusammengestellt, die neben altbewährten Anfängerstücken der Geschichte von Bach bis Bartók auch Beispiele für die Klarier-Musik der letzten Jahre enthält. Zur Stützung theoretischer Kenntnisse und Fertigkeiten im Klavierspiel sind Titel angegeben, der Jazz- und U-Musik-Bereich ist einbezogen. Zur Verdeutlichung seiner pädagogischen Intentionen stellt Runze vier Grundforderungen in seinen Kommentaren voran.

Sie lauten für Band I:

- elementare Erfahrung vermitteln,
- tonales Hören ausbilden,
- Grundlagen der Technik nahe bringen
- Improvisation als Aufgabe bewusst machen;

Sie lauten für Band II:

- Notenschrift als graphische Notation verstehen,
- Fähigkeiten des relativen Lesens schulen,
- musiktheoretische Fakten realisieren,
- musikalische Form verdeutlichen.

Ich kann jeden Kollegen, der Anfängerunterricht erteilt, nur ermuntern, sich mit Runzes Versuch auseinanderzusetzen. Auch wer das Schulwerk im Unterricht nicht benutzen möchte, sollte es als Lernstoff nützen.

(Text gekürzt)
Alle mit (R) bezeichneten Zitate stammen aus "Zwei Hände Zwölf Tasten".

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Auszug aus "Musik und Bildung" 8.Jahrgang Heft 1 Januar 1976:


Rezension von Fritz Emonts über Band II "Spiel mit Noten"

Klaus Runze hat seinem vieldiskutierten Beitrag zum Klavierunterricht einen 2. Band folgen lassen:
"Zwei Hände - Zwölf Tasten" mit dem Untertitel "Spiel mit Noten".
Bereits im ersten Band hat Runze einen ganz neuen Ton angeschlagen, neue Denk-Anstöße gegeben, neue Möglichkeiten aufgezeigt, das didaktische Spektrum ausgeweitet, absolut neue Aspekte für die Anfangsmethodik im Klavierunterricht aufgezeigt, voller Phantasie und voller Einsicht in die Kinderseele. So wurde der 2. Band von interessierten Pädagogen mit unverkennbarer Spannung erwartet. Wie wird der begonnene Weg weiter verlaufen? Wie wird der Obergang vom zeichnerisch dargestellten Tastenbild zum Notenbild erfolgen? Die Erwartung wurde von diesen und ähnlichen Fragen bestimmt. Runze stellt seinem 2. Band folgende Empfehlungen voraus:

a) Der vorliegende Band 2 kann parallel zu Band 1, der das Spiel ohne Noten zum Inhalt hat, benutzt werden.
b) Man kann ihn ebenso nach Band 1 verwenden. obwohl er keine direkte inhaltliche Fortsetzung von Band 1 darstellt.
c) Auch eine Beschäftigung mit Band 2 unabhängig von Band 1 ist möglich.


Er geht von der unbestreitbaren Erfahrung aus:

". . . dass das Spielen nach Noten gerade beim Klavierspiel die Entfaltung der musikalischen Anlagen erschweren kann, wenn die Notenschrift allzu sehr in den Vordergrund der pädagogischen Arbeit tritt und schließlich nur gelernt wird, um buchstabiert zu werden. Einerseits sind die manuellen und physiologischen Abläufe beim Klavier so kompliziert, dass das Starren auf das Notenbild ihre freie, gelockerte Entwicklung oft unmöglich macht, andererseits stellt die Notenschrift eine historisch gewachsene Abstraktion dar, bei deren Entzifferung es mitunter sehr schwer ist, musikalische Vorgänge in ihr zu erkennen. Beide Einsichten haben zu der Konzeption dieser zwei Bände geführt und bestimmen weitgehend ihren Aufbau."

Mit großer Behutsamkeit wird der Schüler vom Tastenbild über das selbstgeschriebene Notenbild zum gedruckten Notenbild geführt, das erstmalig auf Seite 16 des Bandes auftaucht. Der Schüler wird somit nicht mit fertig vorgeformten Gestalten konfrontiert, sondern entwickelt sich dorthin nach dem didaktischen Prinzip des "Sicht-Erarbeitens", wobei das mitschöpferische Element viel Spielraum findet. Es werden grafische Hilfsmittel benutzt, die ein komplexes Erfassen musikalischer Zusammenhänge ermöglichen, gleichzeitig aber auch den Zugang zur grafischen Notation in der neuen Musik erleichtern. Die Notenbeispiele und "Greifmodelle" bestimmter Tonfolgen können sehr leicht variiert werden und haben vorwiegend Modellcharakter: so oder ähnlich können Töne zu musikalischen Gebilden geformt werden.

Bei der Konzeption beider Bände hat der Verfasser an den Unterrichtsbeginn im frühen Kindesalter gedacht. Die musikalische Früherziehung am Klavier ist ohne die von Klaus Runze ausgehenden Anregungen nicht mehr denkbar.